Erich Fried: Eine Stunde
Mit großer Besorgnis beobachte ich die zunehmende Verhärtung an allen „Fronten“
der politischen Auseinandersetzungen,
die Automatismen, mit denen Gespräche durch Sanktionen ersetzt werden,
ich sehe, wie Rechthaberei und Besserwisserei überhandnehmen,
wie sich die scheinbar Guten über die scheinbar Bösen erheben,
ohne dass dahinterliegendes Machtstreben und wirtschaftliche Interessen benannt werden.
Und das in einer Zeit
in der wir uns als vernunftbegabte Wesen
zusammentun sollten als Mitglieder, Einzelwesen,
einer sich einenden Menschheit
um alle Kreativität und Achtsamkeit
Erfindergeist und Klugheit
Wissen und Weisheit
Spiritualität und kulturelle Errungenschaften
Aufmerksamkeit und Mut
Bewahren und Vorwärtsstreben
Neugier und Beharrungsvermögen
Zögern und Kühnheit
zusammen zu tragen, zu vereinen, mitzuteilen, zu kommunizieren, zu respektieren,
zu achten, zu retten mit den Potenzialen jedes Einzelnen. Damit wir das gemeinsame Vermögen nutzen,
unsere kostbare Mutter Erde, unseren wunderbaren blauen Planeten zu erhalten
mit dem Beitrag jedes Menschen in seiner Einzigartigkeit und Kostbarkeit.
In Wirklichkeit geht es darum, uns als Spezies in der Vielfalt der irdischen Diversität zu erkennen, zu erhalten,
um Wege zueinander zu finden, uns in unseren verschiedenen Sprachen zu verständigen, unsere unterschiedlichen
Lebensformen wert zu schätzen,
los zu kommen von den gewohnten, zerstörerischen, vernichtenden, lebensfeindlichen Gewohnheiten der Rivalität,
des Beherrschens, Bekämpfens, SiegenMüssens!
In dieser Sorge ist mir ein Gedicht von Erich Fried begegnet, das 1984 geschrieben,
im Kern noch immer greift, auch wenn die Zahlen um den Faktor X multipliziert werden müssen.
Eine Stunde
Ich habe eine Stunde damit verbracht
ein Gedicht das ich geschrieben habe
zu korrigieren
Eine Stunde
Das heißt: In dieser Zeit
sind 1400 kleine Kinder verhungert
denn alle zweieinhalb Sekunden verhungert
ein Kind unter fünf Jahren
in unserer Welt
Eine Stunde lang wurde auch
das Wettrüsten fortgesetzt
und 62 Millionen achthunderttausend Dollar
wurden in dieser einen Stunde ausgegeben
für den Schutz der verschiedenen Mächte
voreinander
Denn die Rüstungsausgaben der Welt
betragen derzeit
550 Milliarden Dollar im Jahr
Auch unser Land trägt dazu
sein Scherflein bei
Die Frage liegt nahe
ob es noch sinnvoll ist
bei dieser Lage der Dinge
Gedichte zu schreiben.
Allerdings geht es in einigen Gedichten
um Rüstungsausgaben und Krieg
und verhungernde Kinder.
Aber in anderen geht es
um Liebe und Bäume und Berge
und auch um Gedichte und Bilder
Wenn es nicht auch
um all dies andere geht
dann geht es auch keinem mehr wirklich
um Kinder und Frieden
Erich Fried
Ich wünsche eine wache Woche
herzlich
uTa